Eine der ersten Erwähnungen von Jeremy Corbyn in den britischen Medien stammt aus dem Jahr 1984. Die Lokalzeitung „Islington Gazette“ berichtete damals über den „gammeligen“ jungen Abgeordneten, der als Vertreter des Londoner Stadtbezirks im britischen Unterhaus dort einen von seiner Mutter ausgebesserten Schlabberpulli trage. Ein konservativer Parlamentarier, heißt es in dem Artikel weiter, habe deshalb einen Verweis für den seltsamen Hinterbänkler von der Labour Party gefordert.

Das ist lange her. 35 Jahre später ist Jeremy Corbyn Oppositionsführer im Unterhaus. Vergangene Woche ließ der Labour-Parteichef ein Foto von sich an die Presse verschicken, das ihn in staatstragender Pose zeigt: Corbyn im weißen Hemd am Schreibtisch, die Ärmel entschlossen umgekrempelt, die Stirn ernsthaft in Falten gelegt, wie er einen Brief an die britische Premierministerin Theresa May unterschreibt. Neben sich auf der Tischplatte zwei dicke Stapel mit politischen Unterlagen.
Die Botschaft des sorgfältig inszenierten PR-Fotos lautet: Leute, hier sitzt Großbritanniens nächster Premierminister. Der Mann, der das gebeutelte Königreich aus den irrsinnigen Wirren des Brexits heraus und zurück auf den Weg der Vernunft führen kann. Corbyn, ein Politiker, der weiß, was er will, und weiß, was er tut. Das sind zwei Gaben, die derzeit im Londoner Regierungsviertel Westminster eher selten zu finden sind.
Unter dem Genossen Corbyn hat die altehrwürdige Labour Party in den vergangenen Jahren ein furioses Comeback geschafft. Er hat die Partei auf einen strammen Linkskurs gebracht, damit die zuvor desolaten Umfragewerte von Labour in verblüffende Höhen getrieben und Hunderttausende neue Parteimitglieder gewonnen. Bei der jüngsten Parlamentswahl haben Großbritanniens Sozialdemokraten mit 40 Prozent der Stimmen das beste Wahlergebnis seit anderthalb Jahrzehnten eingefahren. Erfolge, von denen in Deutschland Andrea Nahles und die SPD nur träumen können.
Wahlforscher sehen Corbyns Truppe derzeit in der Wählergunst praktisch gleichauf mit Mays konservativen Torys. Wenn nächste Woche in Großbritannien Wahlen wären, dann hätte Corbyn, der im Mai 70 Jahre alt wird, eine echte Chance, neuer Regierungschef zu werden. Eine erstaunliche späte Karriere für einen politischen Außenseiter, der zuvor drei Jahrzehnte als einflussloser Linksaußen im Unterhaus verbracht hat. Mehr als 500 Mal hat Corbyn während dieser Zeit im Parlament gegen die offizielle Linie der Labour-Parteiführung gestimmt. Als er 2015 von den Mitgliedern völlig überraschend per Urwahl zum Vorsitzenden gewählt wurde, war das für die BBC „eine der größten Sensationen in der politischen Geschichte Großbritanniens“.
Noch mehr gefürchtet als der Brexit
Der feuerrote Labour-Chef hat nun ein weiteres Kunststück fertiggebracht: In Großbritanniens Chefetagen wird Corbyn heute noch mehr gefürchtet als der Brexit – und das will etwas heißen. Viele Wirtschaftsführer auf der Insel blicken dem EU-Austritt des Königreichs am 29. März nämlich mit Schrecken entgegen. Sie fürchten, dass der Brexit kurzfristig zu Chaos in ihren Betriebsabläufen und dauerhaft zu teuren Hürden für den wichtigen Außenhandel mit Kontinentaleuropa führen wird. Ein Projekt der nationalen Selbstbeschädigung.
Doch wer britische Manager beim Smalltalk fragt, was für sie das größere Übel wäre – ein „No-Deal-Brexit“, also ein Austritt ohne vertragliche Einigung mit der EU, oder der Labour-Chef als neuer Premierminister –, der erhält nach einem gequälten Lächeln fast immer dieselbe Antwort: Corbyn wäre schlimmer. Wobei die eigentliche Befürchtung der Konzernchefs ist, dass sie am Ende beides bekommen: Zuerst einen wirtschaftlich destruktiven Brexit, dessen politische Schockwellen dann Theresa May aus dem Amt fegen und Jeremy Corbyn an die Macht bringen.
Источник: Corruptioner.life